verstrickt
Mariel Poppe (Objekte, Zeichnung)
Héctor Velázquez (Skulptur)
6.04.-24.05.2019
  • verstrickt 1
  • verstrickt 2
  • verstrickt 3
  • verstrickt 4
  • verstrickt 5
  • verstrickt 6
  • Ausstellungsansicht
  • Héctor Velázquez | „Nodulo 2“, 2018 | Polyesterharz | 64 x 58 x 32 cm
  • Mariel Poppe | „Struggle Wandzeichnung“, 2019 | Eddingmarker | 200 x 300 cm
  • Héctor Velázquez | „Contentión“, 2014 | Polyesterharz und Baumwollgarn | 55 x 45 x 24 cm
  • Mariel Poppe | „Pore 2“, 2019 | Latex | 85 x 85 x 30 cm
  • Héctor Velázquez | „El Grito“, 2006 | Gips und Baumwolle | 26 x 26 X 29 cm

verstrickt

Sich zu verstricken heißt: verwickelt werden, gefangen sein, sich verheddern. Sich zu verstricken heißt auch: sich zu vereinigen, zu umschlingen, lose Enden zu verweben. Aus Fasern einen Faden zu drehen, aus Fäden einen Strang zu knoten, aus Strängen ein Netz zu knüpfen. Ein Netz, das mit nur geringem tatsächlich greifbaren Material und einer immensen Fülle von Leerstellen als filaments and voids die gesamte Welt durchspannen kann.

(Un)Sichtbare Momente des Austausches von Innerem und Äußerem, verlorene Verbindungen, myzelien-ähnliche Gedankenstrukturen sowie mannigfaltige Ausformungen von (emotionellen) Verknotungen, Verwirrungen und Verhärtungen verknüpfen hier die Arbeiten von Poppe und Velázquez. Im Zentrum steht dabei bei beiden Künstler*innen die Erfahrung eines menschlich sinnlichen – und “sinn-haften” – Körpers und die damit verbundene Auslotung der Grenzen seines Seinszustandes. Dies wird in einem formalen wie inhaltlich engem Dialog von Zeichnung, Latexobjekt und Skulptur ergründet.

Dabei kreiert jede einzelne Arbeit ein Echo zwischen sich und jeder anderen Arbeit im Raum, dem wahrgenommenen Selbst und dem Anderen. Die mögliche Vielzahl der Resonanzen liegt bei der/dem Betrachter*in. Weiß, Schwarz, Rot, Licht, Dunkel, Haut.

Hindurch und ein Eins – dehnen, stoßen, halten

Einen Punkt in eine Ausdehnung zu setzen, ist einen Anfang zu machen: Konzentration, Potential, eine kleinste geschlossene Größe, eine Monade, ein Samen, eine Zelle. Einen Moment lang in sich kreisend aus der Zeit gehoben zu sein, außerhalb dessen immer ein lineares Davor und ein Danach. Aus der Nähe betrachtet vielleicht auch eine Nabe, ein Aufhängepunkt, ein Nexus, eine Pore. Ein Volumen aus Durchlässigkeit. Ein Loch also – das ist: ein leerer Raum, definiert durch seine fassbare Umgebung als das Fehlende, das Nicht-Material. Ein Durchgang von einer bekannten Welt in eine (geheimnisvolle) andere. Nur durch die Porosität ihrer Membrane kann eine Zelle (Nährkörper) in Austausch treten, mit Leben erfüllt werden.

Die Werke können groß und klein gelesen werden: ein Blick durch das Elektronenmikroskop, eine Art Plazenta, ein Fruchtkörper im Myzelienverband, ein Dolinenschnitt, ein Vulkan vor dem Ausbruch, der Zeitraffer einer Gefühlseruption, ... Das topographische, personifizierte Element ist verbindend, ebenso wie die zugrundeliegende emotionale Selbstähnlichkeit. Beides hat eine lange Tradition: Warum also sollte ein psychischer Zustand nicht Niederschlag in einem geographisch verortbarem Gleichnis finden? Oder anders herum: Warum sollte ein geologisches Ereignis nicht ein anthropomorph verstandenes Temperament besitzen? Der Ausbruch wird (noch) eingedämmt, das wilde Hintereinander der emotionalen Gestik des Ein-Haltens ist dunkel erkaltet, erstarrt. Dazwischen bricht roten Gewächsen gleich kraftvoll Unterdrücktes aus der Hand-Bauch-Formation.

Sondern und eine Umfriedung – wähnen, lauten, werden

Spuren graben sich ein und überlagern einander. Nachbilder, Umrisse, Muster, Gerüche. An manchen Stellen sind die Kerben tiefer. Die Summe aller Ereignisse erschafft Verfilzungen, die Knoten werden dicker. Die Messkurven der physischen (und ‘psychischen’) Gestik werden zur Notation, die Notation einmal zur Topographie, einmal zur Kartographie, einmal zur Resonanzkurve.

Hier die mögliche Legende einer Karte: Das existentielle regellose Aufbegehren der Gedanken im Kampf gegen sich selbst – versinnbildlicht durch skizzenhafte Körperumrisse kämpfender Freestyle-Ringer. Diese werden wieder und wieder übereinander gelegt, verdreht, gespiegelt. Das daraus resultierende ornamenthafte, vielgliedrige Wesen wird zum Rorschachtest-Abbild von innerem Chaos und ‘der Suche nach Wiederherstellung einer inneren Ordnung’ (Zitat Poppe). Der Kopf-Raum in einer Perspektive ohne Fluchtpunkt oszilliert zwischen vernunftgesteuerter Außenbetrachtung und irrationalem Ausgeliefertsein.

Oder dieser Kopf-Raum: geschlossene Augen, innere Versenkung. Einfriedung. Dann aufsteigen, diffundieren. Die körperhafte Erde in der Haut tragen. Leben, Tod, Erneuerung. Wie Xipe Totec. Unter die Haut gehen, bis auf die Haut, hautnah. Aus der – dünn*dickhäutigen – Haut fahren. Absolut Person sein. Diese Membrane zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich nachzeichnen. Das Dermis-Terrain sowohl mit der inneren als auch der äußeren Umwelt formen, dabei Muskeln und Zellen zu geographischen Gegebenheiten traktieren, seelische Zustände verarbeiten und sichtbar machen. Meditation. Totenmaske. Lebensbild.

Annähernd und ein Garten – hegen, entfalten, binden

Die Hände dienen dem individuellen Ausdruck, dem Nähren und Gestalten, der Kosung, der Gewalt. Sie sind das zentrale Werkzeug des (Über)Lebens. Aber auch wortwörtlich: Aus der Hand(lung) entwachsen die vielfältigen Emotionen des menschlichen Daseins. Und hier in einer ambivalenten Vereinigung von Hand, Körper, (menschlichen) Organen, Polypen, Botanik, Tumoren und Seelendasein entstehen die Hybridskulpturen der “emotionalen Gärten” (Zitat Velázquez). Sie sind gleichermaßen freundlich wie abschreckend, eine glückliche Weiterentwicklung oder eine bösartige Wucherung. Ein kleines Knötchen kann sowohl zur Knospe als auch zum Geschwür werden. Die Divergenz von Krebs und Heilung ist oft nur minimal. Das Umsorgen eines Gartens (welche Gestalt er auch annimmt) hat immer jedoch auch etwas mit dem Pflegen des freien Selbst zu tun. Die (emotionalen, künstlerischen) Gewächse bleiben im Zyklus von Gedeihen und Vergehen, nie ganz kontrolliert, immer ein wenig wild.

So entwickeln Poppe und Velázquez ihre ganz eigene künstlerische Weltenformel, ihre Werke sind sowohl existentiell als auch universell deutbar.